domenica 17 maggio 2015

Die Mädchen von Soroka


(16-05-2015) In den letzten Tagen habe ich in Facebook lesen müssen, wie schrecklich die Russen beim Einmarsch in Deutschland mit deutschen Frauen umgegangen sind. Da ist mir ein Kapitel aus Curzio Malapartes „Kaputt“ in den Sinn gekommen, in dem er schildert, wie deutsche Soldaten in Bessarabien mit jüdischen Mädchen umgegangen sind. Hier meine Übersetzung dieses Kapitels:

 

Die Mädchen von Soroka

 

“Oh! Qu’il est difficile d’être femme! – sagte Louise. “Der Minister Baron Braun von Stum“, - sagte Louise, als sie Nachricht vom Selbstmord von dessen Frau vernahm….. Er blieb bewegungslos, errötete nur ein wenig und sagte nur: „Heil Hitler!“

Wie immer, stand ich an jenem Morgen der täglichen Sitzung der ausländischen Presse beim Aussenministerium vor. Er schien vollkommen ruhig zu sein. An der Beerdigung von Giuseppina nahm keine deutsche Frau teil, nicht einmal die bestand sich nur aus einigen in Berlin lebenden Italienerinnen, einer Gruppe von italienischen Arbeiterinnen der Organisation Todt und einigen Beamten der italienischen Botschaft. Giuseppina war der Trauer deutscher Frauen nicht würdig. Die Ehefrauen der deutschen Diplomaten sind stolz auf die Leiden, auf das Elend, auf die Entbehrungen des deutschen Volkes. Die Ehefrauen deutscher Diplomaten stürzen sich nicht aus dem Fenster, sie bringen sich nicht um. Heil Hitler! Der Gesandte Baron von Braun von Stum folgte dem Leichenwagen in der Diplomatenuniform Hitlerdeutschlands, hin und wieder schaute er sich misstrauisch um, hin und wieder errötete er. Er schämte sich seiner Ehefrau (ach! Er hatte eine Italienerin geheiratet), er hatte nicht die Kraft gehabt, den Leiden des deutschen Volkes zu widerstehen.

„Parfois  j’ai honte d’être femme“ sagte Louise mit unterdrückter Stimme.

„Warum Louise? Lassen Sie mich Ihnen die Geschichte der Mädchen von Soroka erzählen“, sagte ich, „von Soroka in Bessarabien, am Dnjestr“.

 

Es waren arme jüdische Mädchen, die in die Felder und die Wälder geflüchtet waren um sich vor den deutschen Soldaten zu verstecken. Die Kornfelder und die Wälder Bessarabiens, zwischen Balzy und Soroka, waren voll von jüdischen Mädchen, die sich dort aus Angst vor den Deutschen versteckt hielten.

Sie hatten keine Angst vor deren Aussehen, vor deren fürchterlichen, heisseren Stimmen, vor deren blauen Augen, vor deren breiten und schweren Füssen: aber vor deren Händen. Sie hatten keine Angst vor deren blonden Haaren, vor deren Maschinenpistolen: aber vor deren Händen. Wenn eine Kolonne deutscher Soldaten am Anfang einer Strasse auftauchte, zitterten die im Korn und zwischen den Akazien- und Birkenstämmen verstecken jüdischen Mädchen vor Angst und wenn eine von ihnen anfing zu weinen, zu schreien, hielten ihr ihre Gefährtinnen den Mund zu oder stopften ihr Stroh in den Mund; aber das Mädchen hörte nicht auf zu schreien, es hatte Angst vor den Händen der Deutschen, es fühlte schon diese derben und glatten deutschen Hände unter ihrer Kleidung, es fühlte schon diese eisernen Finger in ihrem intimen Fleisch. Sie lebten von Tag zu Tag versteckt in den Feldern, im Korn, hingestreckt in den Furchen zwischen den goldenen Ähren wie in einem warmen Wald aus goldenen Bäumen, sie bewegten sich nur ganz langsam, um die Ähren nicht in Bewegung zu setzen. Denn jedesmal wenn die Deutschen sahen, dass die Ähren sich bewegten, ohne dass ein Wind ging, riefen sie: „Achtung! Partisanen“ und schossen mit ihren Maschinenpistolen in das Gewirr goldenen Korns. Die Mädchen stopften Stroh in den Mund ihrer verletzten Gefährtinnen, damit diese nicht schreien konnten und flehten „Sei still, Sei still“, sie drückten sie mit dem Knie auf die Erde und hielten sie mit ihren vor Angst verkrampften Fingern an der Kehle fest, damit sie nicht schreien konnten.

Es waren jüdische Mädchen so um die achtzehn, zwanzig Jahre alt, es waren die Jüngsten und Schönsten. Die anderen, die hässlichen und verkrüppelten Mädchen der Ghettos Bessarabiens blieben zuhause eingeschlossen, wo sie die Gardinen der Fenster beiseiteschoben um die Deutschen vorbeiziehen zu sehen, dabei zitterten sie vor Angst. Vielleicht war es nicht nur Angst, vielleicht war es noch etwas anderes, das diese armen, buckligen oder hinkenden und lahmen, von der Krätze oder von den Pocken gezeichneten, an Ekzemen und Haarausfall leidenden Mädchen zittern machte. Sie zitterten vor Angst, wenn die die Vorhänge beiseiteschoben um die deutschen Soldaten vorbeiziehen zu sehen. Bei jeder Bewegung und jedem Ruf eines Soldaten zogen sie sich erschrocken zurück, dabei kicherten sie mit geröteten und verschwitzten Gesichtern in ihren halbdunklen Zimmern und flüchteten hinkend und sich gegenseitig anrempelnd, zu den Fenstern des Nachbarzimmers um die deutschen Soldaten hinter der nächsten Strassenbiegung verschwinden zu sehen.

Die in den Feldern und Wäldern versteckten Mädchen erblassten sobald sie ein Dröhnen von Motoren, ein Getrappel von Pferdehufen, ein Kreischen von Rädern hörten, das von der Strasse kam, die von Balzy in Bessarabien nach Soroka am Dnjestr und in die Ukraine führt. Sie lebten dort wie wilde Tiere, und ernährten sich von dem bisschen, was sie von den Bauern ergattern konnten, eine Scheibe Brot oder einen Maisfladen oder ein Stück gesalzenen Schafskäse. An bestimmten Tagen, gegen Abend, wenn es dämmerte, durchkämmten die deutschen Soldaten das Korn und machten Jagd auf jüdische Mädchen. Wenn sie das Korn durchkämmten, riefen sie sich gegenseitig: Kurt! Fritz! Karl! Sie hatten jugendliche, etwas heissere Stimmen, sie sahen aus wie Jäger auf einer Jagdpartie, die die Heide durchkämmen um Rebhühner, Wachteln und Fasanen aufzuscheuchen.

Überrascht und verängstigt wirbelten die Lerchen in die staubigen Abendluft auf, die Soldaten hoben den Kopf und folgten ihnen mit den Augen: die im Korn versteckten Mädchen hielten die Luft an wobei sie auf die Hände der deutschen Soldaten achteten, welche die Kolben der Maschinenpistolen fest umklammerten, die sahen sie zwischen den Ähren auftauchen und wieder verschwinden, diese deutschen blonden haarigen Hände, haarig wie Distelstengel, diese harten, glatten deutschen Hände. Die Jäger waren nun schon nahe, sie gingen etwas gebeugt vorwärts, man hörte sie schwer atmen und die Luft heisser ausstossen. Bis eines der Mädchen einen Schrei ausstiess, dann ein anderes und dann ein weiteres.

Eines Tages beschloss der Sanitätsdienst der Elften deutschen Heeresgruppe in Soroka ein Bordell einzurichten. Aber in Soroka gab es keine Frauen, ausser ein paar alten und lahmen. Der grösste Teil der Stadt war von Russen und Deutschen durch Minen und Bomben zerstört worden, fast die gesamte Bevölkerung war geflüchtet, die Jüngeren waren den sowjetischen Truppen zum Dnjepr gefolgt. Unversehrt geblieben war nur das Stadtviertel mit dem Park und dasjenige um das alte, von den Genuesen erbaute Schloss, das auf dem westlichen Dnjestrufer  liegt, inmitten eines Labyrinths von niedrigen, aus Holz und Lehm erbauten Hütten, in denen eine elende Bevölkerung aus Tartaren, Rumänen, Bulgaren und Türken lebt. Von der Höhe des Dammes, der zum Fluss abfällt, sieht man die schmale Stadt zwischen dem Dnjestr und dem abschüssigen, bewaldeten Ufer: die Häuser sahen damals verlassen und von Bränden geschwärzt aus; unten, jenseits des Parks stieg aus einigen Häusern immer noch der Rauch auf. Das war Soroka am Dnjestr als das Militärbordell in einem Haus nahe bei der Mauer des Genueserschlosses eröffnet wurde: eine Stadt aus Ruinen mit Strassen, die von Kolonnen aus Soldaten, Pferden und Kraftwagen belebt wurden.

Die Militärbehörden schickten Patrouillen aus, damit sie Jagd auf jüdischen Mädchen machten, die sich im Korn und in den Wäldern rund um die Stadt versteckt hatten. Und so, als man das Bordell nach echter militärischer Art mit einem Offiziersbesuch  einweihte, wurde der Kommandeur der Elften Heeresgruppe, General von Schobert mit seinem Gefolge, von einem Dutzend bleicher, zitternder Mädchen mit verweinten Augen begrüsst.

Alle waren noch sehr jung, einige sogar noch Kinder: sie trugen keine dieser langen Morgenmäntel aus roter, gelber und grüner Seide, mit weiten Ärmeln, die die traditionelle Uniform der orientalischen Bordelle sind, sondern ihre besten Kleider, diese einfachen und züchtigen Kleider, wie sie die bürgerlichen Mädchen in der Provinz tragen.  Sie sahen eher wie Schülerinnen aus (einige von ihnen waren tatsächlich noch Schülerinnen), die sich ihre Kleider in der Wohnung von Freundinnen zusammengelesen hatten um sie bei irgendeiner Prüfung zu tragen. Sie hatten ein bescheidenes, schüchternes und verängstigtes Aussehen.

Ich hatte sie schon ein paar Tage vor der Eröffnung des Bordells auf der Strasse vorbeigehen sehen, es waren etwa ein Dutzend, sie gingen in der Mitte der Strasse, jede von ihnen mit einem Bündel unter dem Arm oder trugen einen Lederkoffer oder einen mit Bindfaden zugebundenen Karton. Sie wurden von zwei, mit Maschinenpistolen bewaffneten SS-Männern begleitet. Alle hatten graue, von Staub bedeckte Haare und trugen Röcke, in denen noch irgendeine Ähre steckte, ihre Strümpfe waren zerrissen, ein Mädchen hinkte, denn es hatte nur einen Schuh am Fuss, den anderen hatte sie in der Hand.

 

An einem Abend, einen Monat später, befand ich mich auf der Durchfahrt in Soroka. Der Sonderführer Schenk hatte mich eingeladen mit ihm die jüdischen Mädchen des Militärbordells zu besuchen. Als ich ablehnte begann Schenk zu lachen und mich spöttisch anzusehen. „Es sind keine Prostituierten, es sind Mädchen aus gutem Hause“, sagte Schenk.

Ich antwortete: „Ich weiss, dass es Mädchen aus gutem Hause sind“.

„Es lohnt sich nicht, sie zu sehr zu bedauern“, erwiderte Schenk, „es sind jüdische Mädchen“.

Ich antwortete; „Ich weiss, es sind jüdische Mädchen sind“.

„Und?“ sagte er, „Haben Sie vielleicht Angst, dass sie sich beleidigt fühlen, wenn wir sie besuchen?“.

Ich antwortet: „Schenk, gewisse Dinge können Sie nicht verstehen“.

„Was ist denn dabei zu verstehen?“, meinte Schenk.

Ich antwortete. „Diese armen Mädchen aus Soroka sind keine Prostituierte, sie verkaufen sich nicht freiwillig. Sie werden gezwungen sich zu prostituieren. Sie haben das Recht von uns respektiert zu werden. Sie sind Kriegsgefangene, die ihr in unwürdiger Weise ausbeutet. Welchen Prozentanteil einkassiert denn das deutsche Oberkommando von den Einnahmen dieser armen Mädchen?“

„Die Liebesdienste dieser Mädchen kosten nichts“, sagte Schenk, „die Mädchen leisten eine kostenlose Arbeit“.

„Eine Zwangsarbeit, wollen Sie sagen?“

„Nein, einen kostenloser Dienst“, erwiderte Schenk. „Und im Übrigen: auf jeden Fall lohnt es sich nicht sie zu bezahlen“.

„Es lohnt sich nicht sie zu bezahlen? Warum?“

An diesem Punkt sagte mit der Sonderführer Schenk, dass die Mädchen am Ende ihres Dienstes, nach ein paar Wochen, wieder nach Hause geschickt und durch eine neue Schar von Mädchen ersetzt würden“.

„Nach Hause?, sagte ich, „Sind Sie sicher, dass man sie wieder nach Hause schickt?“.

„Ja“, antwortete Schenk mit einer unbeholfenen Miene und leicht errötend, „Nach Hause, in ein Hospital, ich weiss es nicht. Vielleicht auch in ein Konzentrationslager“.

„Warum“, sagte ich, „ersetzt ihr nicht diese armen jüdischen Mädchen durch russische Soldaten?“

Schenk fing an zu lachen und hörte nicht auf zu lachen, er klopfte mir mit der Hand auf die Schulter und lachte und lachte: „Ach so! Ach so!“ Mir war klar, dass er nicht verstanden hatte, was ich sagen wollte, er dachte sicher, ich hätte auf die Geschichte eines bestimmten Hauses in Balzy angespielt, wo einer von der SS-Leibstandarte ein geheimes Bordell für Homosexuelle aufgemacht hatte. Er hatte nicht verstanden, was ich sagen wollte, und lachte mit breitem Mund und klopfte mir mit der Hand auf die Schulter.

„Wenn an der Stelle dieser armen jüdischen Mädchen russische Soldaten wären, wäre das nicht viel lustiger“, sagte ich, „Nicht wahr?“

Dieses Mal glaubte Schenk mich verstanden zu haben und lachte nun umso lauter. Dann sagte er zu mir mit ernster Stimme: „Glauben Sie, dass die Russen alle homosexuell sind?“

„Das werdet ihr am Ende des Krieges schon merken“, antwortete ich.

„Ja, ja, natürlich, wir werden es am Ende des Krieges merken“, sagte Schenk mit breitem Grinsen.

Eines Abends, es war schon spät, es war kurz vor Mitternacht, machte ich mich auf in Richtung Genueser Schloss, ging zum Fluss hinunter, bog in eine Gasse dieses elenden Quartiers ein, klopfte an die Tür dieses Hauses und trat ein. In einem grossen Zimmer, das von einer Petroleumlampe beleuchtet wurde, die in der Mitte von der Zimmerdecke hing, sassen drei Mädchen auf Sofas, die längs der Wände aufgestellt waren. Eine Holztreppe führte ins obere Stockwerk. Aus den oberen Zimmern hörte man Türangeln quietschen, leichte Schritte, unterdrücktes Sprechen von weitentfernten, wie im Dunkeln begrabenen Stimmen.

Die drei Mädchen hoben die Augen und schauten mich an. Sie sassen züchtig auf den niedrigen Sofas, auf denen diese hässlichen rumänischen Decken aus Cetatea Alba lagen, die gelb, rot und grün gestreift sind. Eine von ihnen las in einem Buch, das sie bei meinem Eintreten sofort auf die Knie legte und mich schweigend ansah. Es sah aus wie eine von Pascin gemalte Bordellszene. Sie sahen mich schweigend an, eine von ihnen ordnete mit den Fingern ihre schwarzen, gekräuselten Haare, die ihr wie bei einem Kind vor der Stirn hingen. In einer Ecke des Zimmers, standen auf einem mit einem gelben Tuch bedeckten Tisch einige Flaschen Bier, Zuica, und eine doppelte Reihe von Gläsern in Kelchform.

„Guten Abend“, sagte nach langem Zögern das Mädchen, das sich die Haare geordnet hatte.

„Buna seara“, erwiderte ich auf Rumänisch.

„Buna seara“, sagte das Mädchen wobei es ein mühsames Lächeln hervorbrachte.

In diesem Augenblick wusste ich nicht mehr weshalb ich in dieses Haus gegangen war, ich wusste zwar, dass ich unbemerkt von Schenk gekommen war, nicht aus Neugier oder aus einem Anflug von Mitleid, sondern wegen etwas, an das mein Bewusstsein sich vielleicht jetzt nicht erinnern wollte.

„Es ist schon spät“, sagte ich.

„In Kürze schliessen wir“, sagte das Mädchen.

Eine ihrer Gefährtinnen hatte sich inzwischen von ihrem Sofa gelangweilt erhoben und näherte sich einem Grammophon, da in einer Zimmerecke auf einem Tischchen stand, wobei sie mich mit den Augen kurz streifte. Sie betätigte die Kurbel und setzte den Arm mit der Nadel auf eine Platte. Aus dem Grammophon klang die Stimme einer Frau, die ein Lied sang. Ich ging zum Grammophon und hob die Nadel von der Platte.

„Warum?“, fragte das Mädchen, das schon die Arme erhoben hatte um mit mir zu tanzen. Und ohne meine Antwort abzuwarten drehte sie sich um und setzte sich wieder auf ihr Sofa. Sie war von kleiner Statur und etwas dicklich. Ihre Füsse steckten in Pantoffeln aus hellgrünem Stoff. Ich ging um mich zu ihr aufs Sofa zu setzen, um mir Platz zu machen, schlug das Mädchen ihren Rock unter den Beinen zusammen und schaute mich starr an. Sie lächelte, und ich weiss nicht, warum mich ihr Lächeln nervös machte. In diesem Augenblick hörte man oben an der Treppe eine Tür öffnen und eine Frauenstimme rief: „Susanna“.

Ein mageres, bleiches Mädchen mit offenen, bis auf die Schultern herabfallenden Haaren kam die Treppe herunter, sie hielt in der Hand eine brennende Kerze, die aus einem Trichter aus gelben Papier hervorragte. Sie trug Pantoffeln, hatte ein Handtuch über dem Arm und mit einer Hand hob sie ihren roten Morgenrock, eine Art von Bademantel, den eine Schnur an der Hüfte wie eine Kutte zusammenhielt, sie hielt auf einer Stufe in der Mitte der Treppe inne, betrachtete mich aufmerksam, runzelte die Stirn, so als wenn sie meine Anwesenheit stören würde, dann blickte sie ein wenig irritiert in die Runde, eher misstrauisch, sah auf das Grammophon, wo die Platte sich immer noch im Leeren mit einem leichten Rauschen drehte, sah die unbenutzten Gläser, die Bierflaschen, die immer noch in einer Reihe standen, sie  öffnete gähnend ihren Mund und sagte mit einer etwas heisseren Stimme, in der etwas Hartes und Unhöfliches lag: „Gehen wir schlafen, Susanna, es ist schon spät“.

Das Mädchen, das die neu Angekommene mit Susanna angesprochen hatte, fing an zu lachen und schaute ihre Gefährtin mit einem gewissen Spott an: „Bist Du schon müde, Lublia?“ fragte sie. „Was hast Du gemacht, dass Du schon so müde bist?“

Lublia antwortete nicht, sie setzte sich auf das Sofa gegenüber dem unseren, und betrachtete aufmerksam aber gähnend meine Uniform. Dann fragte sie mich: „Ihr seid aber kein Deutscher. Was seid Ihr denn?“

„Italiener“.

„Italiener?“ Die Mädchen schauten mich jetzt mit einer gewissen, höflichen Neugier an. Die, die vorher gelesen hatte, macht nun ihr Buch zu und warf mir einen müden, zerstreuten Blick zu.

„Italien ist schön“, sagte Susanna.

„Ich wäre froh, wenn es ein hässliches Land wäre“, sagte ich. „Es nützt nichts, nur schön zu sein“.

„Ich möchte nach Italien gehen“, sagte Susanna, „Nach Venedig. Mir würde es gefallen in Venedig zu leben“.

„In Venedig?“, sagte Lublia, und fing an zu lachen.

„Würdest  Du nicht gern mit mir nach Venedig kommen?“, fragte Susanna. „Ich habe noch nie eine Gondel gesehen“.

„Wenn ich nicht verliebt wäre“, sagte Lublia, würde ich sofort mitkommen“.

Die zwei Mädchen begannen zu lachen und eine von ihnen sagte: „Wir sind alle verliebt“. Auch die anderen fingen nun an zu lachen und schauten mich auf seltsame Weise an.

„Nous avons beaucoup d’amants“, sagte Susanna auf Französisch, mit dem weichen Akzent der rumänischen Juden.

„Ils ne nous laisseraint pas partir pour l’Italie“, sagte Lublia und zündete sich eine Zigarette an. „Il sont tellement jaloux!“. Ich beobachtete, dass sie ein langes, schmales Gesicht mit einem kleinen traurigen Mund mit schmalen Lippen hatte. Er ähnelte dem Mund eines Kindes. Aber ihre Nase war knochig und von der Farbe einer Kerze mit grossen roten Nasenlöchern. Beim Rauchen schaute sie hin und wieder auf die Zimmerdecke und stiess den Rauch mit eingeübter Gleichgültigkeit aus: und in ihrem weissen Blick lag eine Mischung von Resignation und Hoffnungslosigkeit.

Das Mädchen, das mit dem Buch auf den Knien dagesessen hatte, erhob sich nun und sagte: „noapte buna“, wobei es das Buch mit beiden Händen fest an ihren Körper drückte.

„Noapte buna“, antwortete ich.

„Noapte buna, dòmnule capitan“, wiederholte das Mädchen, wobei sie mit ängstlicher Grazie einen etwas unbeholfenen Knicks machte. Und sich umdrehend ging sie zur Treppe.

„Willst Du die Kerze, Zoe?“, fragte Lublia, wobei sie ihr mit den Augen folgte.

„Nein danke. Ich habe keine Angst vor der Dunkelheit“, antwortete Zoe ohne sich umzudrehen.

„Tu vas rêver de moi“, rief Susanna.

“Bien sûr! Je vais dormir à Venise”, antwortete Zoe und verschwand.

Wir blieben für einige Augenblicke still. Das ferne Rattern eines Lastwagens liess die Glasscheiben der Fenster leicht erzittern.

„Vous aimez les Allemands?“, fragte mich plötzlich Susanna.

„Pourquois pas?“, antwortete ich leicht misstrauisch, was das Mädchen bemerkte.

„Ils sont gentils, n’est pas?“, sagte sie.

„Il y en a qui sont très gentils“.

Susanna sah mich lange an und sagte dann mit einem unverhohlenen Ausdruck von Hass: „Il sont très aimables avec les femmes“.

„Ne la croyez pas“, sagte Lublia, “au fond, elle les aime bien”.

Susanna fing an zu lachen, wobei sie mich seltsam ansah. Etwas Weisses und Weiches erschien in der Tiefe ihres Blicks, es schien als würden sich ihre Augen auflösen.

„Elle a peut-être quelque raison de les aimer“, sagte ich.

„Oh, gewiss“, sagte Susanne, „sie sind meine letzte Liebe“.

Ich bemerkte, dass ihre Augen voller Tränen waren und trotzdem lachte sie. Da streichelte ich ihr behutsam die Hand und Susanna liess ihren Kopf auf die Brust hängen so dass ihre Tränen lautlos ihr Gesicht netzten.

„Warum weinst Du?, sagte Lublia mit heisserer Stimme und warf die Zigarette fort, „wir haben noch zwei Tage gutes Leben vor uns. Findest Du das zu wenig, zwei Tage? Genügen sie Dir noch nicht?“. An diesem Punkt hob sie die Stimme und schüttelte ihre Arme über dem Kopf, so als ob sie Hilfe herbeirufen wolle, und mit einer Stimme voller Hass und Abscheu, voller Schmerz und Angst schrie sie: „Noch zwei Tage, noch zwei Tage, dann schicken sie uns nach Hause! Nur noch zwei Tage und Du heulst? Genau jetzt musst Du heulen? Wir gehen weg von hier, verstehst Du? Weg! Weg! Und sie warf sich der Länge nach auf das Sofa, versteckte ihr Gesicht in den Kissen und begann zu zittern, klapperte wild mit den Zähnen und wiederholte hin und wieder mit dieser seltsamen, verängstigten Stimme: „Nur noch zwei Tage!“. Ein Pantoffel rutschte ihr vom Fuss und fiel auf den Holzboden. Ihr nackter Fuss war gerötet, hatte Schwielen und war von weissen Narben übersät. Er war klein wie der Fuss eines Kindes. Ich dachte, dass sie viele Meilen weit zu Fuss hatte gehen müssen, wer weiss von wo sie herkam, wer weiss aus wie vielen Orten sie hatte fliehen müssen, bevor man sie aufgegriffen und mit Gewalt hierher gebracht hatte.

Susanna schwieg, das Gesicht auf der Brust, ihre Hand meinen Händen überlassen. Es schien als würde sie nicht mehr atmen. Plötzlich sagte sie mit leiser Stimme und ohne mich anzuschauen: „Glaubt Ihr, dass man uns nach Hause schickt?“

„Sie können euch nicht zwingen, euer ganzes Leben hier zu verbringen“.

„Alle zwanzig Tage wechseln sie uns Mädchen aus“, sagte Susanna, „und wir sind schon achtzehn Tage hier. Noch zwei Tage und dann wechseln sie uns aus. Sie haben es uns schon wissen lassen. Aber glaubt Ihr wirklich, dass sie uns nach Hause zurückkehren lassen?“ Ich merkte, dass sie vor etwas Angst hatte, aber es gelang mir nicht festzustellen vor was. Dann erzählte sie mir, dass sie in der Schule Französisch gelernt hätte, in Chiscinau, dass ihr Vater ein Kaufmann in Balzy gewesen war, dass Lublia die Tochter eine Arztes sei und dass auch drei andere Mädchen Studentinnen seien. Sie fügte hinzu, dass Lublia Musik studieren und Klavier wie ein Engel spielen würde. Sie würde bestimmt eine grosse Künstlerin werden.

„Wenn sie dieses Haus verlassen hat“ sagte ich, „kann sie ja ihre Studien wieder aufnehmen“.

„Wer weiss das schon? Nach alledem was uns zugestossen ist. Und dann, wer weiss wie alles enden wird“.

Inzwischen hatte sich Lublia auf die Ellbogen gestützt, hatte ein verschlossenes Gesicht aufgesetzt, geschlossen wie eine Faust, ihre Augen glänzten seltsam in ihrem wächsernen Gesicht. Sie zitterte als ob sie Fieber hätte. „Ja, ich werde sicher eine grosse Künstlerin“, sagte sie. Und sie fing an zu lachen und wühlte in ihren Taschen nach einer Zigarette. Sie stand auf, ging zum Tisch, öffnete eine Bierflasche, füllte drei Gläser und brachte sie zu uns auf einem hölzernen Tablett. Sie bewegte sich leicht und ohne ein Geräusch zu machen.

„Ich habe Durst“, sagte Lublia und trank hastig mit geschlossenen Augen.

Es war schwül im Zimmer, dichte Sommerluft drang durch die nicht ganz geschlossenen Fenster. Lublia ging mit nackten Füssen durchs Zimmer, das leere Glas in der Hand, die Augen streng geradeaus gerichtet. Ihr langer und magerer Körper schwang im der schlaffen Hülle des weiten roten Morgenmantels hin und her, ihre nackten Füsse erzeugten auf dem Holzboden einen weichen Ton, der von weither zu kommen schien. Das andere Mädchen, das während der ganzen Zeit weder ein Wort gesprochen, noch ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, so als ob ihre mit ihren auf uns gerichteten Augen nicht sehen würden was um sie herum vorging, war inzwischen quer auf dem Sofa liegend in ihrem mehrfach geflickten Morgenrock eingeschlafen, die eine Hand im Schoss, die andere zur Faust geschlossen auf der Brust.  Hin und wieder hörte man aus dem Park den trockenen Ton eines Gewehrschusses widerhallen. Vom gegenüberliegenden Ufer des Dnjestr, ein bisschen weiter oben, gegen Jampol, erreichte uns das Rattern von Artilleriegeschützen, das sich in den wolligen Falten der schwülen Nacht verlor.  Lublia blieb vor der eingeschlafenen Gefährtin stehen und betrachtete sie lange schweigend. An Susanna gerichtet, sagte sie dann: „Man muss sie zu Bett bringen, sie ist müde“.

„Wir haben den ganzen Tag gearbeitet“, sagte Susanna fast wie um sich zu entschuldigen, „wie sind todmüde. Während des Tages müssen wir uns um die Soldaten kümmern, und am Abend, zwischen acht und elf Uhr kommen die Offiziere. Wir haben praktisch keine Minute zum Ausruhen“. Sie sprach mit gleichgültiger Stimme, so als ob es sich um irgendeine beliebige Arbeit handele. Sie zeigte nicht einmal Verachtung. Während sie das sagte, erhob sie sich, half Lublia ihre Gefährtin hochzuheben, die, sobald sie ihre Füsse auf dem Boden spürte, aufwachte und mit einem Stöhnen, so als ob sie Schmerzen fühle, in die Arme ihrer Freundinnen gelehnt, sich auf die Treppe zu bewegte. Dann verloren sich das Stöhnen und das Geräusch ihrer Schritte hinter der halbgeschlossenen Tür.

Ich blieb allein im Zimmer. Die von der Decke hängende Petroleumlampe  fing an zu rauchen, ich erhob mich um die Flamme zu regulieren. Die Lampe fuhr fort zu flackern und mein Schatten und die Schatten der Möbel, der Flaschen und aller Gegenstände begannen sich an der Wand zu bewegen. Vielleicht wäre es besser gewesen in diesem Augenblick zu gehen. Ich sass auf dem Sofa und schaute gegen die Tür. Ich fühlte dunkel, dass es falsch von mir war, hier in diesem Hause zu bleiben. Vielleicht wäre es besser gewesen zu gehen bevor Lublia und Susanna zurückkamen. „Ich fürchtete Euch nicht mehr zu sehen“, hörte ich hinter mir Susanna sagen. Sie war wieder heruntergekommen und, ohne ein Geräusch zu machen, bewegte sich nun ganz langsam im Zimmer, sie räumte die Flaschen und Gläser fort, dann setzte sie sich neben mich auf das Sofa. Sie hatte ihr Gesicht gepudert und sah jetzt noch bleicher aus als vorher. Sie fragte mich, ob ich noch lange in Soroka bliebe.

„Ich weiss nicht, vielleicht zwei oder drei Tage, länger sicher nicht“, antwortete ich. „Ich muss an die Front bei Odessa. Aber ich werde sicher bald zurückkommen“.

„Glaubt Ihr, dass die Deutschen Odessa einnehmen werden?“

„Das, was die Deutschen machen werden, interessiert mich überhaupt nicht“, sagte ich.

„Das möchte auch ich sagen können“, sagte Susanna.

„Oh, das tut mir leid, Susanna, ich wollte nicht ….. „ sagte ich. Und nach einer verlegenen Pause fugte ich hinzu: „Es ist mir völlig gleich was die Deutschen machen. Es braucht noch mehr um den Krieg zu gewinnen“.

„Wisst Ihr wer den Krieg gewinnen wird? Vielleicht glaubt Ihr, dass die Deutschen, die Engländer oder die Russen gewinnen werden. Den Krieg gewinnen wir, Lublia, Zoe, Marika, ich und alle wie wir hier. Den Krieg werden die Huren gewinnen“.

„Sei still“, sagte ich.

„Die Huren werden gewinnen!“ wiederholte Susanna fast schreiend. Dann begann sie still zu lachen, mit der Stimme eines Kindes, mit der Stimme eines verängstigten Kindes: „Glaubt Ihr, dass sie und nach Hause schicken werden?“.

„Warum sollten sie euch nicht nach Hause schicken?“ antwortete ich, „Habt ihr vielleicht Angst, dass sie euch in ein anderes Haus wie dieses schicken“.

„Oh nein, mach zwanzig Tagen bei einer solchen Arbeit taugen wir zu nichts mehr. Ich habe sie gesehen, die anderen. Sie unterbrach sich und ich merkte, dass ihr die Lippen zitterten. An diesem Tag hatte sie dreiundvierzig Soldaten und sechs Offiziere „bedienen“ müssen. Sie begann zu lachen. Sie konnte dieses Leben nicht mehr aushalten. Es ist nicht so sehr der Ekel, als die körperliche Anstrengung. Es ist nicht so sehr der Ekel, wiederholte sie lächelnd, als die körperliche Anstrengung. Ihr Lächeln tat mir weh: es schien als wolle sie sich rechtfertigen; oder vielleicht lag noch etwas anderes in diesem zweideutigen Lächeln, etwas Dunkles. Sie fügte hinzu, dass die anderen, die vor ihnen hier gewesen waren, also vor Lublia, Zoe und Marika, als sie dieses Haus verliessen in einem, erbarmungswürdigen Zustand gewesen seien. Sie schienen keine Frauen mehr zu sein. Sie waren nur noch Lumpen. Susanna hat sie fortgehen sehen mit ihren Köfferchen, mit ihren zu Bündeln geschnürten Lumpen unter dem Arm. Zwei SS-Männer mit Maschinenpistolen hatten sie auf einen Lastwagen steigen lassen und fortgebracht, wer weiss wohin.

„Ich möchte nach Hause zurückkehren“, sagte Susanna, „nach Hause“.

Die Lampe fing wieder an zu flackern, der fette Petroleumgeruch verbreitete sich im Zimmer. Ich hielt sanft Susannas Hand, die zitterte wie ein verängstigtes Vögelchen. Auf der Türschwelle atmete die Nacht schwer wie eine kranke Kuh: ihr warmer Hauch erfüllte das Zimmer zusammen mit dem Säuseln der Blätter der Bäume und dem Rauschen des Flusses.

„Ich habe sie gesehen, als sie das Haus hier verliessen“, sagte Susanna mit Schaudern, „sie sahen wie Gespenster aus“.

Wir blieben schweigend lange so sitzen, im Halbdunkel des Zimmers und ich fühlte in mir eine bittere Traurigkeit, ich glaubte nicht mehr an meine Worte. Meine Worte waren falsch und böse. Auch unser Schweigen war falsch und böse.

„Auf Wiedersehen, Susanna“, sagte ich mit gedrückter Stimme.

„Wollt Ihr nicht heraufkommen?“, sagte Susanna.

„Es ist spät“, antwortete ich und begab mich zur Tür.

„Au revoir“, sagte Susanna lächelnd.

Ihr schwaches Lächeln leuchtete auf der Schwelle, der Himmel war voller Sterne.

 

„Haben Sie nichts mehr von ihnen gehört, von diesen armen Mädchen?“, fragte Louise nach langem Schweigen.

„Ich weiss nur, dass sie sie zwei Tage später fortgebracht haben. Alle zwanzig Tage tauschten die Deutschen die Mädchen aus. Diejenigen, die in dem Bordell gewesen waren, verluden sie auf Lastwagen und brachten sie hinunter zum Fluss. Schenk sagte mir einmal, man müsse kein Mitleid mit ihnen haben. Sie taugten zu nichts mehr. Sie seien nur noch Lumpen. Und im Übrigen seien sie Jüdinnen.

„Elles savaient qu’on allait fusiller?“, fragte Ilse.

„Elles le savaient. Elles tremblaient de peur d’être fusillées. Oh, elles le savaient. Tout le monde le savait à Soroka.

Als wir hinausgingen war der Himmel voller Sterne. Sie funkelten kalt und tot, wie Glasaugen. Vom Bahnhof hörte man das heisere Zischen der Züge. Ein bleicher Frühlingsmond ging am klaren Himmel auf, die Bäume und die Hauser schienen aus einem weichen, glitschigen Stoff gemacht zu sein. Ein Vogel sang zwischen den Ästen, dort unten, beim Fluss. Wir gingen die verlassene Strasse am Flussufer entlang und stiegen zum Ufer hinab.

Das Wasser machte im Dunkeln ein Geräusch wie nackte Füsse im Gras. Dann fing ein anderer Vogel zu singen an, auf einem Baum, der schon vom bleichen Mondlicht beleuchtet war, und andere Vögel antworteten von Nah und Fern. Ein grosser Vogel glitt lautlos über die Bäume, kam herunter, berührte fast das Wasser, und überquerte langsam den Fluss mit unsicherem Flug. Mir kam die Sommernacht im römischen Gefängnis Regina Coeli in den Sinn, als ein Schwarm Vögel sich auf dem Dach des Gefängnisses niederliess und zu singen anfing. Die Vögel kamen sicher von den Bäumen des Gianicolo, sie haben sicher ihre Nester in der Tasso-Eiche, dachte ich und fing zu weinen an. Ich schämte mich des Weinens, aber nach einer so langen Gefängniszeit ist der Gesang eine Vogels stärker als der Stolz eines Menschen, der Einsamkeit eines Menschen. „Oh, Louise“, sagte ich und ohne es eigentlich zu wollen, nahm ich ihre Hand und streichelte sie sanft.

Louise zog zart ihre Hand zurück und schaute mich einem Blick an, der eher Überraschung zeigte als dass er ein Vorwurf war. Sie war überrascht von meiner unerwarteten Geste, vielleicht bedauerte sie auch, dass sie meinem Streicheln ausgewichen war; ich hätte ihr sagen sollen, dass ihre Hand mich an diejenige von Susanna erinnerte, an die kleine, feuchte Hand Susannas, dort unten im Bordell von Soroka. Auch erinnerte ich mich an die Hand einer russischen Arbeiterin, die ich eines Abends unbemerkt in einem Wagen der Berliner U-Bahn gedrückt hatte, eine breite schwielige, von Säuren zerfressene Hand. Mir war es, als ob ich auf dem Sofa des Bordells von Soroka neben dem armen, jüdischen Mädchen, neben Susanna, sitzen würde, und es überfiel mich ein grosses Mitleid mit Louise, mit Louise von Preussen, mit der kaiserlichen Prinzessin Louise von Hohenzollern. Die Vögel sangen um uns im dunklen Mondlicht. Die beiden Mädchen schwiegen und schauten  auf den Fluss, der unten in der Dunkelheit opak flimmernd vorbeifloss.

„J’ai pitié d’être femme“, sagte Louise mit leiser Stimme in ihrem Potdamer Französisch.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Deutschen in der Ukraine


DIE ROTEN HUNDE

 

Hinterhältigkeit

 

Es regnete Tag für Tag, das schwarze, tiefe Meer aus ukrainischem Schlamm erhob sich langsam über dem Horizont. Es war die hoche Flut des ukrainischen Herbstes: der Schlamm hob sich Schritt um Schritt wie aufgehender Brotteig. Den fetten Schlammgeruch brachte der Wind aus der Ferne der endlosen Ebene, durchmischt vom Geruch nicht geernteten Korns, das auf den Feldern dem Verfaulen preisgegeben war und vom süssen und müden Geruch der Sonnenblumen. Aus den schwarzen Augen der Sonnenblumen lösten sich die Samenkörner - eines nach dem anderen - die langen gelben Blütenblätter, die die grossen runden Auge umstanden hatten, fielen herab - eines nach dem anderen. Nun war das Auge weiss und leer wie das Auge eines Blinden. 

Die deutschen Soldaten, die von der Front zurückkehrten, warfen, als sie den Dorfplatz erreichten, ihre Gewehre schweigend auf den Boden. Sie waren vom Kopf bis zu den Füssen von Schlamm bedeckt, hatten lange Bärte und tiefliegende Augen, die den Augen der Sonnenblumen zu ähneln schienen, so weiss und leer waren sie. Die Offiziere schauten die Soldaten und die auf den Boden geworfenen Gewehre an, und schwiegen. Der Blitzkrieg war jetzt vorbei, jetzt  begann der Dreissigjährige Blitzkrieg. Mit dem Gewinnerkrieg war es jetzt vorbei, jetzt begann der Verliererkrieg. Auf dem Grunde der leeren Augen der Offiziere und der deutschen Soldaten sah ich den weissen Fleck der Angst, ich sah, wie er sich nach und nach erweiterte, die Pupille anfrass, die Wurzeln der Wimpern ansengte und die Wimpern fielen - eine um die andere - wie die Blütenblätter der Sonnenblumen.  Wenn der Deutsche anfängt Angst zu haben, wenn sich in seinen Knochen die rätselhafte deutsche Angst einnistet, dann ist der Moment gekommen, an dem er Schrecken und Mitleid zugleich einflösst. Sein Ausdruck ist erbärmlich, seine Grausamkeit traurig, sein Mut schweigsam und verzweifelt. Und genau in diesem Augenblick wird der Deutsche bösartig: und ich bereute es Christ zu sein, und ich schämte mich ein Christ zu sein.

Die russischen Gefangenen, die jetzt von der Front in die Etappe gebracht wurden,  waren nicht mehr so wie diejenigen in den ersten Monaten des Krieges, sie waren nicht mehr so wie die im Juli, wie die im August, wie die, die von deutschen Soldaten bewacht, unter der sengenden Sonne, in tagelangen Märschen durch die rote und schwarze Erde der Ukraine in die Etappe gebracht wurden. Während der ersten Kriegsmonate zeigten sich die Frauen in den Dörfern auf der Schwelle ihrer Häuser, lachten und weinten vor Freude, sie kamen gelaufen um den Gefangenen etwas zum Trinken und zum Essen zu bringen.  - Oh biedni, oh biedni! – riefen sie „die Armen“. Sie brachten sogar  etwas zu Essen und zu Trinken auch für die deutschen Bewacher, die sich inmitten des Dorfplatzes hingesetzt hatten, auf die Bänke neben den umgeworfenen Standbildern aus Gips von Lenin und Stalin, wo sie, mit der Maschinenpistole zwischen den Knien, sich rauchend und lachend unterhielten. Während der Rast in den Dörfern waren die russischen Gefangenen ziemlich frei, konnten dahin und dorthin gehen, sogar in die Häuser oder sich nackt am Brunnen waschen. Beim Pfiff des deutschen Feldwebels liefen jedoch alle wieder an ihre Posten und die Kolonne setzte sich in Bewegung, marschierte aus dem Dorf, durchquerte singend das grüne und gelbe Meer der endlosen Ebene. Die Frauen, die Alten und die Kinder begleiteten die Kolonne ein Stück weit, lachend und weinend. An einen bestimmten Punkt blieben für einen Augenblick stehen um den sich entfernenden Gefangenen zuzuwinken, ihnen Kusshände zuzuwerfen. Dann, wenn die Sonne hoch stand, kehrten auf der staubigen Strasse zurück, drehten sich hin und wieder um, um „doswidanja daragaia“ zu rufen „Auf Wiedersehen ihr Lieben“. – Die deutschen Bewacher, mit ihrer umgehängten Maschinenpistole, marschierten sich laut unterhaltend und lachend, zwischen den Hecken und Sonnenblumen. Und die Sonnenblumen neigten sich durch die Hecken um sie vorbeimarschieren zu sehen, ihnen mit ihrem schwarzen runden Augen nachzuschauen -  bis die Kolonne im Staub verschwand.

Nun war der Gewinnerkrieg vorbei und es begann der Verliererkrieg, begann der Dreissigjährige Blitzkrieg. Und die Kolonnen russischer Kriegsgefangener wurden immer weniger: die deutschen Wachmannschaften marschierten nicht mehr mit umgehängter Maschinenpistole lachend und sich laut unterhaltend, sie marschierten nun an der Seite der Kolonnen, brüllten mit rauer Stimme, starr das schwarze und glänzende Auge der Maschinenpistolen auf die Gefangenen gerichtet. Bleich und abgemagert schleppten sich diese durch den Schlamm, hungrig und müde, und die Frauen, die Alten und die Kinder in den Dörfern sahen sie mit tränenden Augen vorbeiziehen und riefen mit schwacher Stimme „nitschewo, nitschewo“ , sie hatten nichts mehr, nicht einmal ein Stück Brot, nicht einmal ein Glas Milch, die Deutschen hatten alles fortgenommen, alles, alles gestohlen, „nitschewo, nitschewo“. „Macht nichts, daragaja, macht nichts. Wsio rawno, es ist gleich“, antworteten die Gefangenen. Und die Kolonne durchquerte das Dorf ohne anzuhalten, im Regen, mit dem verzweifelten Ruf „wsio rawno, wsio rawno, wsio rawno“, stolperte sie durch das Meer schwarzen Schlammes der endlosen Ebene.

 

Dann begannen die ersten „Lektionen im Freien“, die ersten Leseübungen in den Höfen der Kolchosbetriebe. Das einzige Mal, an dem ich bei einer dieser Lektionen beiwohnte, war in der Kolchose eines Dorfes in der Nähe von Nemirowskoje. Und von da an habe ich es stets vermieden solchen Lektionen im Freien beizuwohnen. – Warum nicht? – fragten mich die deutschen Offiziere des Generals von Schobert [Eugen Siegfried Erich von Schobert (1883-1941)]. „Warum wollen Sie nicht den Lektionen im Freien beiwohnen? Es ist ein sehr interessantes Experiment, sehr interessant“.

Die Gefangenen waren im Hof der Kolchose aufgereiht, der Umfassungsmauer entlang. Unter grossen Vordächern befand ein Durcheinander von Hunderten von Landwirtschaftsmaschinen: Mähmaschinen, Eggen, mechanische Pflüge, Dreschmaschinen. Es regnete, und die Gefangenen waren durchnässt bis auf die Haut. Sie standen dort schon seit einigen Stunden, schweigend, einer an den anderen gelehnt. Es waren blonde Jungens mit rasiertem Kopf, mit hellen Augen und breitem Gesicht. Sie hatten grosse und breite Hände mit narbigen, gedrungenen und gekrümmten Daumen. Fast alle waren Bauern. Die Arbeiter, zum grössten Teil Mechaniker und Kolchoshandwerker, erkannte man an ihrer Statur und an ihren Händen: sie waren grösser, magerer, hellhäutiger, sie hatten knochige Hände mit langen Fingern, mit glatten Daumen, geglättet in der Berührung mit Hämmern, Hobeln, Schraubenschlüsseln, Schraubenziehern und Kurbeln. Man erkannte sie auch an ihren ernsten Gesichtern und ihren trüben Augen.

 

An einem bestimmten Augenblick betrat den Kolchoshof ein deutscher Unteroffizier, ein Feldwebel – begleitet von einem Dolmetscher. Der Feldwebel war klein und dick, von der Art, die scherzhafterweise Fettweibel genannt wurden. Er pflanzte sich breitbeinig vor den Gefangenen auf und begann mit der gutmütigen Stimme eines Familienvaters zu reden. Er sagte, dass man heute eine Leseprüfung machen würde, jeder müsse einen Abschnitt aus einer Zeitung laut vorlesen und diejenigen, die die Prüfung bestehen würden, würden in den Gefangenenlagern als Schreiber eingesetzt. Die anderen, die die Prüfung nicht bestehen würden, müssten Äcker bestellen, als Handlanger arbeiten oder Erdarbeiten verrichten.

Der Dolmetscher war ein Sonderführer, klein und mager, nicht älter als dreissig Jahre alt, mit bleichem Gesicht und vielen kleinen roten Flecken, in Russland geboren, ein Volksdeutscher aus Melitopol, der Russisch mit einem seltsamen deutschen Akzent sprach. (Beim ersten Mal, als ich ihn traf, sagte ich zu ihm im Scherz, dass Melitopol Stadt des Honigs heisst. – „Ja, es gibt viel Honig in der Gegend von Melitopol“ – antwortete er mir mit unwirscher Stimme und sich verfinsterten Miene,  „Ich beschäftige mich nicht mit Imkerei: ich bin Lehrer“ –). Der Sonderführer übersetzte die kurze und mit gutmütiger Stimme vorgetragene Rede des Feldwebels Wort für Wort und fügte mit dem Ton eines Lehrers, der seine Schüler herausfordert, hinzu, gut auf die Aussprache zu achten, sich beim Lesen anzustrengen und nicht zu künsteln, denn wenn sie die Prüfung nicht ehrenhaft beständen, würden sie es bereuen.

Die Gefangenen hörten stillschweigend zu. Erst als der Sonderführer geendet hatte, begannen sie unter sich zu reden. Viele schienen den Mut verloren zu haben, schauten um sich wie geprügelte Hunde und rangen verlegen die schwieligen Hände. Andere aber lachten zufrieden, sie waren sich sicher, die Prüfung ehrenhaft zu bestehen und nun Schreibdienste in irgendeinem Büro erledigen zu können. „Eh Pjotr, eh Wanja“ – riefen sie mit der ihnen eignen Fröhlichkeit russischer Bauern ihren Kameraden zu. Die Arbeiter unter ihnen schwiegen, richteten ihre Augen auf das Direktionsgebäude der Kolchose, in dem sich das deutsche Kommando befand, schauten hin und wieder auf den Feldwebel, aber würdigten den Sonderführer keines Blickes. Ihre Augen waren tiefliegend und stumpf.

„Ruhe“ – schrie plötzlich der Feldwebel. Und schon erschien eine Gruppe von Offizieren, angeführt von einem alten, hochgewachsenen und mageren, etwas gebeugten Oberst mit kurzgeschnittenem weissen Bärtchen, der beim Gehen ein Bein etwas nachschleppte. Der Oberst schaute kurz und oberflächlich die Gefangenen an, dann begann er mit monotoner Stimme zu sprechen, wobei er einige Silben verschluckte, so als hätte er Eile seine Sätze zu beenden. Am Ende jedes Satzes machte er eine lange Pause und blickte auf die Erde. Er sagte, dass diejenigen, die die Prüfung ehrenhaft bestehen würden, und so weiter und so fort. Der Sonderführer übersetzte die kurze Ansprache des Oberst Wort für Wort, dann fügte er von sich aus hinzu, dass die Regierung in Moskau Milliarden in die sowjetischen Schulen investiert habe. Er wisse das, weil er vor dem Krieg Lehrer in einer Schule für Volksdeutsche in Melitopol gewesen sei, und dass alle, die die Prüfung nicht bestehen würden, dann harte Handarbeit als Hilfskräfte und Landarbeiter leisten müssten; schlecht für die, die in der Schule nichts gelernt hätten. Es schien so, als ob dem Sonderführer sehr viel daran gelegen sei, dass jeder mit guter und korrekter Aussprache laut Lesen könne.

„Wie viele?“ fragte der Oberst den Feldwebel, wobei er sich mit der behandschuhten Hand das Kinn strich. „Hundertachtzehn“ antwortete der Feldwebel. „Fünf jeweils zusammen und jeder zwei Minuten“, befahl der Oberst. „Wir müssen das in einer Stunde erledigen“. „Jawohl“ antwortete der Feldwebel.

Der Oberst winkte einem der Offiziere, der ein Bündel Zeitungen unter dem Arm trug, und die Prüfung begann.

Fünf Gefangene traten einen Schritt vor, jeder von ihnen streckte eine Hand aus um die Zeitung zu ergreifen, die der Offizier ihm hinhielt (es waren alte Nummern der Iswestija und der Prawda, die man im Büro der Kolchose gefunden hatte) und fing an mit lauter Stimme zu lesen. Der Oberst hob den linken Arm mit der Armbanduhr und hielt ihn vor die Brust, die Augen fest auf die Zeiger gerichtet. Es regnete und die Zeitungen wurden nass und nässer, wurden weich und schlaff in den Händen der Gefangenen, die, rot oder ganz bleich im Gesicht, schwitzend sich in den Wörtern verhedderten, anfingen zu buchstabieren, den Akzent zu verfehlen und die Zeilen zu verwechseln. Alle konnten lesen, aber nicht fliessend, ausser einem, einem ganz jungen, der langsam aber sicher las, wobei er hin und wieder aufschaute. Der Sonderführer hörte den Lesenden mit einem ironischen Lächeln zu, in dem, wie es mir schien, ein Schatten von Verachtung lag: in seiner Rolle als Dolmetscher, fühlte er sich als Richter. Er war der Richter. Er blickte die Lesenden fest an, blickte von einem zum anderen mit einstudierter Langsamkeit und Bösartigkeit. – „Halt!“ rief der Oberst.

Die fünf Gefangenen blickten von den Zeitungen auf und warteten. Auf einen Wink des Richters hin rief dann der Feldwebel: „Diejenigen, die durchgefallen sind, stellen sich hinten auf der linken Seite auf, diejenigen, die die Prüfung bestanden haben, auf der rechten Seite“. Als die ersten vier Durchgefallenen, auf einen Wink des Richters hin, enttäuscht sich hinten auf die linke Seite begaben, ging durch die Reihen der Gefangenen ein jugendliches, frohes und schadenfrohes Lachen, ein richtiges Bauernlachen. Auch der Oberst liess den Arm sinken und lachte mit, auch die anderen Offiziere, auch der Feldwebel fingen zu lachen an und auch der Sonderführer. „O biedni – Oh die Armen“, sagten die Gefangenen zu den durchgefallenen Kameraden, „Euch schickt man jetzt Strassen bauen, O biedni, jetzt müsst ihr Steine schleppen“ und lachten dabei. Derjenige, der die Prüfung bestanden hatte, stand rechts hinten ganz allein und lachte mit den anderen die Durchgefallenen aus. Alle lachten, mit Ausnahme der Gefangenen, die dem Aussehen nach Arbeiter waren, und die den Oberst mit finsterem Blick schweigend ins Gesicht sahen.

Dann waren weitere fünf dran, und auch diese strengten sich an, gut zu lesen, ohne über Wörter zu überspringen, ohne falsche Betonung. Aber nur zweien gelang es korrekt zu lesen; die anderen drei, ganz rot vor Scham im Gesicht oder ganz bleich aus Angst, hielten die Zeitung fest in den Händen, und hin und wieder leckten sie sich die trockenen Lippen.  „Halt! – rief der Oberst. Die fünf Gefangenen erhoben das Gesicht und trockneten sich den Schweiss mit der Zeitung, „Ihr drei, nach links  hinten, und ihr zwei nach rechts“, rief der Feldwebel auf einen Wink des Sonderführers hin.  Und die Kameraden machten sich über die Durchgefallenen lustig und riefen: O biedni Ivan! O biedni Pjotr und sie berührten deren Schulter wie um zu sagen: „Jetzt müsst ihr Steine tragen“. Und alle lachten.

Aber einer der fünf Gefangenen der dritten Gruppe las ausgezeichnet, ganz korrekt, betonte klar die Silben und hob hin und wieder die Augen und schaute dem Oberst ins Gesicht. Die Zeitung, aus der er las war eine alte Nummer der Prawda vom 24. Juni 1941, auf deren Frontseite stand: „Die Deutschen sind in Russland eingefallen! Genossen Soldaten, das sowjetische Volk wird den Krieg gewinnen, den Feind zermalmen!“. Die Worte verbreiteten sich unter dem Regen und der Oberst lachte.  Es lachten auch der Sonderführer, der Feldwebel und die Offiziere. Alle lachten. Und auch die Gefangenen lachten, sie schauten mit Bewunderung und Neid auf ihren Kameraden, der wie ein Lehrer lesen konnte. „Bravo!!, sagte der Sonderführer zu ihm mit strahlendem Gesicht: er schien fast so glücklich und stolz zu sein, als ob es sich um einen seiner Schüler handelte. „Du, nach rechts, dort hinten“, sagte der Feldwebel gutgelaunt zu dem Gefangenen und gab ihm einen Klaps auf die Schulter. Der Oberst sah den Feldwebel an und tat so als wolle er etwas zu ihm sagen, aber er hielt sich zurück: und ich merkte, dass er leicht rot wurde.

Die Gefangenen der rechten Gruppe lachten zufrieden: diejenigen, die die Prüfung bestanden hatten schauten ihre glücklosen Kameraden mit spöttischer Miene an, zeigten mit dem Zeigefinger auf sich und sagten: „Wir Schreiber!“ – den Durchgefallenen schnitten sie Grimassen und sagten: „Ihr Steineschlepper!“.  Nur die Gefangenen, die wie Arbeiter aussahen, und nun, einer nach dem anderen, die Reihen derjenigen füllten, die die Prüfung bestanden hatten, schwiegen und blickten starr auf den Oberst, der, als er ihren Blick gewahr wurde, rot wurde und schrie: „Schnell! Schnell!“

Die Prüfung dauerte etwa eine Stunde. Als die letzte Gruppe der Gefangenen dran war -  es waren nur noch drei – endete das Lesen nach zwei Minuten  und der Oberst befahl dem Feldwebel: „Abzählen“. Der Feldwebel machte sich daran sie von weitem abzuzählen: - eins, zwei drei  - Die auf der linken Seite, die Durchgefallenen, waren siebenundachtzig, die auf der rechten Seite, die die Prüfung bestanden hatten, einunddreissig. Nun, auf einen Wink vom Oberst, begann der Sonderführer zu sprechen. Er verhielt sich wirklich wie ein Schullehrer, der nicht mit seinen Schülern zufrieden ist. Er sagte, er sei enttäuscht, dass so viele  durchgefallen seien, dass er es gern gesehen hätte, wenn alle die Prüfung bestanden hätten. Auf jeden Fall, sagte er, diejenigen, die es nicht geschafft hätten, die Prüfung zu bestehen, sollten nicht entmutigt sein: sie würden gut behandelt werden  und hätten nichts zu klagen, sofern sie gut arbeiteten und sich mehr anstrengen würden, als sie es in der Schule getan hätten. Während er sprach, schaute die Gruppe derjenigen, die die Prüfung bestanden hatten, mitleidig auf ihre weniger glücklichen Kameraden, und die Jüngsten gaben sich einen Stoss in die Rippen und lachten unter sich. Dann, als der Sonderführer geendet hatte, wandte sich der Oberst an den Feldwebel und sagte: „Alles in Ordnung. Weg!“ – und schritt, ohne sich umzudrehen, zum Büro des Kommandos. Gefolgt von den Offizieren, die sich hin und wieder umdrehten und mit gedämpfter Stimme unter sich sprachen.

„ Ihr bleibt hier bis morgen und morgen geht’s ab ins Arbeitslager“, sagte der Feldwebel zur linken Gruppe. Dann wandte er sich an die rechte Gruppe, an die Gefangenen, die die Prüfung bestanden hatten. Mit harter Stimme befahl er ihnen, sich in einer Reihe aufzustellen. Kaum standen die Gefangenen in einer Reihe, dicht einer neben dem anderen (sie hatten zufriedene Gesichter und lachten belustigt wenn sie ihre Kameraden ansahen). Er zählte sie nochmals ab. „Einunddreissig“, sagte er und winkte mit der Hand der SS-Mannschaft, die im hinteren Teil des Hofes gewartet hatte. Dann befahl er: „Rechts um, Marsch!“. Die Gefangenen macht Rechts um, sie stampften fest auf den schlammigen Boden, und als sie sich mit dem Gesicht vor der Umfassungsmauer des Hofes befanden, befahl der Feldwebel: „Halt!“. Er wandte sich dann den SS-Leuten zu, die nun mit ihren Maschinenpistolen hinter den Gefangenen standen, räusperte sich, spuckte auf den Boden und befahl: „Feuer!.

Beim Knattern der Maschinenpistolen war der Oberst an der Tür des Kommandos angelangt, er hielt kurz an, drehte sich auf dem Absatz um, auch die Offiziere hielten inne und drehten sich um. Der Oberst fuhr mit der Hand über sein Gesicht als wolle er sich den Schweiss abwischen, und, gefolgt von seinen Offizieren, betrat er das Gebäude des Kommandos.

„Ach so!“, sagte der Sonderführer aus Melitopol als er an mir vorrüberging. „Man muss Russland von diesem Gesindel von Intellektuellen reinigen. Die Bauern und Arbeiter, die zu gut lesen und schreiben können, sind gefährlich. Alles Kommunisten“.

„Natürlich“, sagte ich, „Aber in Deutschland können alle Bauern und Arbeiter gut lesen und schreiben“.

„Das deutsche Volk ist eben ein Kulturvolk“

„Natürlich“, sagte ich, „ein Kulturvolk“.

„Nicht wahr?“, sagte lachend der Sonderführer und begab sich ebenfalls in das Kommandogebäude.

Ich blieb allein inmitten des Hofes, allein mit den Gefangenen, die nicht richtig lesen konnten, und zitterte.