(16-05-2015) In den letzten Tagen habe ich in Facebook
lesen müssen, wie schrecklich die Russen beim Einmarsch in Deutschland mit
deutschen Frauen umgegangen sind. Da ist mir ein Kapitel aus Curzio Malapartes
„Kaputt“ in den Sinn gekommen, in dem er schildert, wie deutsche Soldaten in
Bessarabien mit jüdischen Mädchen umgegangen sind. Hier meine Übersetzung
dieses Kapitels:
Die Mädchen von Soroka
“Oh! Qu’il est difficile
d’être femme! – sagte Louise. “Der Minister Baron Braun von Stum“, - sagte Louise,
als sie Nachricht vom Selbstmord von dessen Frau vernahm….. Er blieb
bewegungslos, errötete nur ein wenig und sagte nur: „Heil Hitler!“
Wie immer, stand ich an jenem Morgen der täglichen Sitzung der
ausländischen Presse beim Aussenministerium vor. Er schien vollkommen ruhig zu
sein. An der Beerdigung von Giuseppina nahm keine deutsche Frau teil, nicht
einmal die bestand sich nur aus einigen in Berlin lebenden Italienerinnen, einer
Gruppe von italienischen Arbeiterinnen der Organisation Todt und einigen
Beamten der italienischen Botschaft. Giuseppina war der Trauer deutscher Frauen
nicht würdig. Die Ehefrauen der deutschen Diplomaten sind stolz auf die Leiden,
auf das Elend, auf die Entbehrungen des deutschen Volkes. Die Ehefrauen deutscher
Diplomaten stürzen sich nicht aus dem Fenster, sie bringen sich nicht um. Heil
Hitler! Der Gesandte Baron von Braun von Stum folgte dem Leichenwagen in der Diplomatenuniform
Hitlerdeutschlands, hin und wieder schaute er sich misstrauisch um, hin und
wieder errötete er. Er schämte sich seiner Ehefrau (ach! Er hatte eine
Italienerin geheiratet), er hatte nicht die Kraft gehabt, den Leiden des
deutschen Volkes zu widerstehen.
„Parfois j’ai honte d’être femme“
sagte Louise mit unterdrückter Stimme.
„Warum Louise? Lassen Sie mich Ihnen die Geschichte der Mädchen von
Soroka erzählen“, sagte ich, „von Soroka in Bessarabien, am Dnjestr“.
Es waren arme jüdische Mädchen,
die in die Felder und die Wälder geflüchtet waren um sich vor den deutschen
Soldaten zu verstecken. Die Kornfelder und die Wälder Bessarabiens, zwischen
Balzy und Soroka, waren voll von jüdischen Mädchen, die sich dort aus Angst vor
den Deutschen versteckt hielten.
Sie hatten keine Angst vor
deren Aussehen, vor deren fürchterlichen, heisseren Stimmen, vor deren blauen
Augen, vor deren breiten und schweren Füssen: aber vor deren Händen. Sie hatten
keine Angst vor deren blonden Haaren, vor deren Maschinenpistolen: aber vor
deren Händen. Wenn eine Kolonne deutscher Soldaten am Anfang einer Strasse
auftauchte, zitterten die im Korn und zwischen den Akazien- und Birkenstämmen
verstecken jüdischen Mädchen vor Angst und wenn eine von ihnen anfing zu
weinen, zu schreien, hielten ihr ihre Gefährtinnen den Mund zu oder stopften
ihr Stroh in den Mund; aber das Mädchen hörte nicht auf zu schreien, es hatte
Angst vor den Händen der Deutschen, es fühlte schon diese derben und glatten
deutschen Hände unter ihrer Kleidung, es fühlte schon diese eisernen Finger in
ihrem intimen Fleisch. Sie lebten von Tag zu Tag versteckt in den Feldern, im
Korn, hingestreckt in den Furchen zwischen den goldenen Ähren wie in einem
warmen Wald aus goldenen Bäumen, sie bewegten sich nur ganz langsam, um die
Ähren nicht in Bewegung zu setzen. Denn jedesmal wenn die Deutschen sahen, dass
die Ähren sich bewegten, ohne dass ein Wind ging, riefen sie: „Achtung!
Partisanen“ und schossen mit ihren Maschinenpistolen in das Gewirr goldenen
Korns. Die Mädchen stopften Stroh in den Mund ihrer verletzten Gefährtinnen,
damit diese nicht schreien konnten und flehten „Sei still, Sei still“, sie
drückten sie mit dem Knie auf die Erde und hielten sie mit ihren vor Angst
verkrampften Fingern an der Kehle fest, damit sie nicht schreien konnten.
Es waren jüdische Mädchen so um
die achtzehn, zwanzig Jahre alt, es waren die Jüngsten und Schönsten. Die
anderen, die hässlichen und verkrüppelten Mädchen der Ghettos Bessarabiens
blieben zuhause eingeschlossen, wo sie die Gardinen der Fenster beiseiteschoben
um die Deutschen vorbeiziehen zu sehen, dabei zitterten sie vor Angst.
Vielleicht war es nicht nur Angst, vielleicht war es noch etwas anderes, das
diese armen, buckligen oder hinkenden und lahmen, von der Krätze oder von den
Pocken gezeichneten, an Ekzemen und Haarausfall leidenden Mädchen zittern
machte. Sie zitterten vor Angst, wenn die die Vorhänge beiseiteschoben um die
deutschen Soldaten vorbeiziehen zu sehen. Bei jeder Bewegung und jedem Ruf
eines Soldaten zogen sie sich erschrocken zurück, dabei kicherten sie mit
geröteten und verschwitzten Gesichtern in ihren halbdunklen Zimmern und
flüchteten hinkend und sich gegenseitig anrempelnd, zu den Fenstern des Nachbarzimmers
um die deutschen Soldaten hinter der nächsten Strassenbiegung verschwinden zu sehen.
Die in den Feldern und Wäldern
versteckten Mädchen erblassten sobald sie ein Dröhnen von Motoren, ein
Getrappel von Pferdehufen, ein Kreischen von Rädern hörten, das von der Strasse
kam, die von Balzy in Bessarabien nach Soroka am Dnjestr und in die Ukraine
führt. Sie lebten dort wie wilde Tiere, und ernährten sich von dem bisschen,
was sie von den Bauern ergattern konnten, eine Scheibe Brot oder einen
Maisfladen oder ein Stück gesalzenen Schafskäse. An bestimmten Tagen, gegen
Abend, wenn es dämmerte, durchkämmten die deutschen Soldaten das Korn und
machten Jagd auf jüdische Mädchen. Wenn sie das Korn durchkämmten, riefen sie
sich gegenseitig: Kurt! Fritz! Karl! Sie hatten jugendliche, etwas heissere
Stimmen, sie sahen aus wie Jäger auf einer Jagdpartie, die die Heide
durchkämmen um Rebhühner, Wachteln und Fasanen aufzuscheuchen.
Überrascht und verängstigt wirbelten
die Lerchen in die staubigen Abendluft auf, die Soldaten hoben den Kopf und
folgten ihnen mit den Augen: die im Korn versteckten Mädchen hielten die Luft
an wobei sie auf die Hände der deutschen Soldaten achteten, welche die Kolben
der Maschinenpistolen fest umklammerten, die sahen sie zwischen den Ähren
auftauchen und wieder verschwinden, diese deutschen blonden haarigen Hände,
haarig wie Distelstengel, diese harten, glatten deutschen Hände. Die Jäger
waren nun schon nahe, sie gingen etwas gebeugt vorwärts, man hörte sie schwer
atmen und die Luft heisser ausstossen. Bis eines der Mädchen einen Schrei
ausstiess, dann ein anderes und dann ein weiteres.
Eines Tages beschloss der
Sanitätsdienst der Elften deutschen Heeresgruppe in Soroka ein Bordell
einzurichten. Aber in Soroka gab es keine Frauen, ausser ein paar alten und
lahmen. Der grösste Teil der Stadt war von Russen und Deutschen durch Minen und
Bomben zerstört worden, fast die gesamte Bevölkerung war geflüchtet, die Jüngeren
waren den sowjetischen Truppen zum Dnjepr gefolgt. Unversehrt geblieben war nur
das Stadtviertel mit dem Park und dasjenige um das alte, von den Genuesen
erbaute Schloss, das auf dem westlichen Dnjestrufer liegt, inmitten eines Labyrinths von
niedrigen, aus Holz und Lehm erbauten Hütten, in denen eine elende Bevölkerung
aus Tartaren, Rumänen, Bulgaren und Türken lebt. Von der Höhe des Dammes, der
zum Fluss abfällt, sieht man die schmale Stadt zwischen dem Dnjestr und dem
abschüssigen, bewaldeten Ufer: die Häuser sahen damals verlassen und von
Bränden geschwärzt aus; unten, jenseits des Parks stieg aus einigen Häusern
immer noch der Rauch auf. Das war Soroka am Dnjestr als das Militärbordell in
einem Haus nahe bei der Mauer des Genueserschlosses eröffnet wurde: eine Stadt aus
Ruinen mit Strassen, die von Kolonnen aus Soldaten, Pferden und Kraftwagen
belebt wurden.
Die Militärbehörden schickten
Patrouillen aus, damit sie Jagd auf jüdischen Mädchen machten, die sich im Korn
und in den Wäldern rund um die Stadt versteckt hatten. Und so, als man das
Bordell nach echter militärischer Art mit einem Offiziersbesuch einweihte, wurde der Kommandeur der Elften
Heeresgruppe, General von Schobert mit seinem Gefolge, von einem Dutzend
bleicher, zitternder Mädchen mit verweinten Augen begrüsst.
Alle waren noch sehr jung,
einige sogar noch Kinder: sie trugen keine dieser langen Morgenmäntel aus
roter, gelber und grüner Seide, mit weiten Ärmeln, die die traditionelle
Uniform der orientalischen Bordelle sind, sondern ihre besten Kleider, diese
einfachen und züchtigen Kleider, wie sie die bürgerlichen Mädchen in der
Provinz tragen. Sie sahen eher wie
Schülerinnen aus (einige von ihnen waren tatsächlich noch Schülerinnen), die
sich ihre Kleider in der Wohnung von Freundinnen zusammengelesen hatten um sie
bei irgendeiner Prüfung zu tragen. Sie hatten ein bescheidenes, schüchternes
und verängstigtes Aussehen.
Ich hatte sie schon ein paar
Tage vor der Eröffnung des Bordells auf der Strasse vorbeigehen sehen, es waren
etwa ein Dutzend, sie gingen in der Mitte der Strasse, jede von ihnen mit einem
Bündel unter dem Arm oder trugen einen Lederkoffer oder einen mit Bindfaden
zugebundenen Karton. Sie wurden von zwei, mit Maschinenpistolen bewaffneten
SS-Männern begleitet. Alle hatten graue, von Staub bedeckte Haare und trugen
Röcke, in denen noch irgendeine Ähre steckte, ihre Strümpfe waren zerrissen,
ein Mädchen hinkte, denn es hatte nur einen Schuh am Fuss, den anderen hatte
sie in der Hand.
An einem Abend, einen Monat
später, befand ich mich auf der Durchfahrt in Soroka. Der Sonderführer Schenk
hatte mich eingeladen mit ihm die jüdischen Mädchen des Militärbordells zu
besuchen. Als ich ablehnte begann Schenk zu lachen und mich spöttisch
anzusehen. „Es sind keine Prostituierten, es sind Mädchen aus gutem Hause“,
sagte Schenk.
Ich antwortete: „Ich weiss,
dass es Mädchen aus gutem Hause sind“.
„Es lohnt sich nicht, sie zu
sehr zu bedauern“, erwiderte Schenk, „es sind jüdische Mädchen“.
Ich antwortete; „Ich weiss, es
sind jüdische Mädchen sind“.
„Und?“ sagte er, „Haben Sie
vielleicht Angst, dass sie sich beleidigt fühlen, wenn wir sie besuchen?“.
Ich antwortet: „Schenk, gewisse
Dinge können Sie nicht verstehen“.
„Was ist denn dabei zu
verstehen?“, meinte Schenk.
Ich antwortete. „Diese armen
Mädchen aus Soroka sind keine Prostituierte, sie verkaufen sich nicht
freiwillig. Sie werden gezwungen sich zu prostituieren. Sie haben das Recht von
uns respektiert zu werden. Sie sind Kriegsgefangene, die ihr in unwürdiger
Weise ausbeutet. Welchen Prozentanteil einkassiert denn das deutsche
Oberkommando von den Einnahmen dieser armen Mädchen?“
„Die Liebesdienste dieser
Mädchen kosten nichts“, sagte Schenk, „die Mädchen leisten eine kostenlose
Arbeit“.
„Eine Zwangsarbeit, wollen Sie
sagen?“
„Nein, einen kostenloser
Dienst“, erwiderte Schenk. „Und im Übrigen: auf jeden Fall lohnt es sich nicht sie
zu bezahlen“.
„Es lohnt sich nicht sie zu
bezahlen? Warum?“
An diesem Punkt sagte mit der
Sonderführer Schenk, dass die Mädchen am Ende ihres Dienstes, nach ein paar
Wochen, wieder nach Hause geschickt und durch eine neue Schar von Mädchen
ersetzt würden“.
„Nach Hause?, sagte ich, „Sind
Sie sicher, dass man sie wieder nach Hause schickt?“.
„Ja“, antwortete Schenk mit
einer unbeholfenen Miene und leicht errötend, „Nach Hause, in ein Hospital, ich
weiss es nicht. Vielleicht auch in ein Konzentrationslager“.
„Warum“, sagte ich, „ersetzt
ihr nicht diese armen jüdischen Mädchen durch russische Soldaten?“
Schenk fing an zu lachen und
hörte nicht auf zu lachen, er klopfte mir mit der Hand auf die Schulter und
lachte und lachte: „Ach so! Ach so!“ Mir war klar, dass er nicht verstanden
hatte, was ich sagen wollte, er dachte sicher, ich hätte auf die Geschichte
eines bestimmten Hauses in Balzy angespielt, wo einer von der SS-Leibstandarte
ein geheimes Bordell für Homosexuelle aufgemacht hatte. Er hatte nicht
verstanden, was ich sagen wollte, und lachte mit breitem Mund und klopfte mir
mit der Hand auf die Schulter.
„Wenn an der Stelle dieser
armen jüdischen Mädchen russische Soldaten wären, wäre das nicht viel
lustiger“, sagte ich, „Nicht wahr?“
Dieses Mal glaubte Schenk mich
verstanden zu haben und lachte nun umso lauter. Dann sagte er zu mir mit
ernster Stimme: „Glauben Sie, dass die Russen alle homosexuell sind?“
„Das werdet ihr am Ende des
Krieges schon merken“, antwortete ich.
„Ja, ja, natürlich, wir werden
es am Ende des Krieges merken“, sagte Schenk mit breitem Grinsen.
Eines Abends, es war schon
spät, es war kurz vor Mitternacht, machte ich mich auf in Richtung Genueser
Schloss, ging zum Fluss hinunter, bog in eine Gasse dieses elenden Quartiers
ein, klopfte an die Tür dieses Hauses und trat ein. In einem grossen Zimmer,
das von einer Petroleumlampe beleuchtet wurde, die in der Mitte von der Zimmerdecke
hing, sassen drei Mädchen auf Sofas, die längs der Wände aufgestellt waren.
Eine Holztreppe führte ins obere Stockwerk. Aus den oberen Zimmern hörte man
Türangeln quietschen, leichte Schritte, unterdrücktes Sprechen von
weitentfernten, wie im Dunkeln begrabenen Stimmen.
Die drei Mädchen hoben die
Augen und schauten mich an. Sie sassen züchtig auf den niedrigen Sofas, auf
denen diese hässlichen rumänischen Decken aus Cetatea Alba lagen, die gelb, rot
und grün gestreift sind. Eine von ihnen las in einem Buch, das sie bei meinem
Eintreten sofort auf die Knie legte und mich schweigend ansah. Es sah aus wie
eine von Pascin gemalte Bordellszene. Sie sahen mich schweigend an, eine von
ihnen ordnete mit den Fingern ihre schwarzen, gekräuselten Haare, die ihr wie
bei einem Kind vor der Stirn hingen. In einer Ecke des Zimmers, standen auf
einem mit einem gelben Tuch bedeckten Tisch einige Flaschen Bier, Zuica, und
eine doppelte Reihe von Gläsern in Kelchform.
„Guten Abend“, sagte nach
langem Zögern das Mädchen, das sich die Haare geordnet hatte.
„Buna seara“, erwiderte ich auf
Rumänisch.
„Buna seara“, sagte das Mädchen
wobei es ein mühsames Lächeln hervorbrachte.
In diesem Augenblick wusste ich
nicht mehr weshalb ich in dieses Haus gegangen war, ich wusste zwar, dass ich
unbemerkt von Schenk gekommen war, nicht aus Neugier oder aus einem Anflug von
Mitleid, sondern wegen etwas, an das mein Bewusstsein sich vielleicht jetzt
nicht erinnern wollte.
„Es ist schon spät“, sagte ich.
„In Kürze schliessen wir“,
sagte das Mädchen.
Eine ihrer Gefährtinnen hatte
sich inzwischen von ihrem Sofa gelangweilt erhoben und näherte sich einem
Grammophon, da in einer Zimmerecke auf einem Tischchen stand, wobei sie mich
mit den Augen kurz streifte. Sie betätigte die Kurbel und setzte den Arm mit
der Nadel auf eine Platte. Aus dem Grammophon klang die Stimme einer Frau, die
ein Lied sang. Ich ging zum Grammophon und hob die Nadel von der Platte.
„Warum?“, fragte das Mädchen,
das schon die Arme erhoben hatte um mit mir zu tanzen. Und ohne meine Antwort abzuwarten
drehte sie sich um und setzte sich wieder auf ihr Sofa. Sie war von kleiner
Statur und etwas dicklich. Ihre Füsse steckten in Pantoffeln aus hellgrünem
Stoff. Ich ging um mich zu ihr aufs Sofa zu setzen, um mir Platz zu machen, schlug
das Mädchen ihren Rock unter den Beinen zusammen und schaute mich starr an. Sie
lächelte, und ich weiss nicht, warum mich ihr Lächeln nervös machte. In diesem
Augenblick hörte man oben an der Treppe eine Tür öffnen und eine Frauenstimme
rief: „Susanna“.
Ein mageres, bleiches Mädchen
mit offenen, bis auf die Schultern herabfallenden Haaren kam die Treppe
herunter, sie hielt in der Hand eine brennende Kerze, die aus einem Trichter
aus gelben Papier hervorragte. Sie trug Pantoffeln, hatte ein Handtuch über dem
Arm und mit einer Hand hob sie ihren roten Morgenrock, eine Art von Bademantel,
den eine Schnur an der Hüfte wie eine Kutte zusammenhielt, sie hielt auf einer
Stufe in der Mitte der Treppe inne, betrachtete mich aufmerksam, runzelte die
Stirn, so als wenn sie meine Anwesenheit stören würde, dann blickte sie ein
wenig irritiert in die Runde, eher misstrauisch, sah auf das Grammophon, wo die
Platte sich immer noch im Leeren mit einem leichten Rauschen drehte, sah die
unbenutzten Gläser, die Bierflaschen, die immer noch in einer Reihe standen,
sie öffnete gähnend ihren Mund und sagte
mit einer etwas heisseren Stimme, in der etwas Hartes und Unhöfliches lag:
„Gehen wir schlafen, Susanna, es ist schon spät“.
Das Mädchen, das die neu
Angekommene mit Susanna angesprochen hatte, fing an zu lachen und schaute ihre
Gefährtin mit einem gewissen Spott an: „Bist Du schon müde, Lublia?“ fragte
sie. „Was hast Du gemacht, dass Du schon so müde bist?“
Lublia antwortete nicht, sie
setzte sich auf das Sofa gegenüber dem unseren, und betrachtete aufmerksam aber
gähnend meine Uniform. Dann fragte sie mich: „Ihr seid aber kein Deutscher. Was
seid Ihr denn?“
„Italiener“.
„Italiener?“ Die Mädchen
schauten mich jetzt mit einer gewissen, höflichen Neugier an. Die, die vorher
gelesen hatte, macht nun ihr Buch zu und warf mir einen müden, zerstreuten
Blick zu.
„Italien ist schön“, sagte
Susanna.
„Ich wäre froh, wenn es ein
hässliches Land wäre“, sagte ich. „Es nützt nichts, nur schön zu sein“.
„Ich möchte nach Italien
gehen“, sagte Susanna, „Nach Venedig. Mir würde es gefallen in Venedig zu
leben“.
„In Venedig?“, sagte Lublia,
und fing an zu lachen.
„Würdest Du nicht gern mit mir nach Venedig kommen?“,
fragte Susanna. „Ich habe noch nie eine Gondel gesehen“.
„Wenn ich nicht verliebt wäre“,
sagte Lublia, würde ich sofort mitkommen“.
Die zwei Mädchen begannen zu
lachen und eine von ihnen sagte: „Wir sind alle verliebt“. Auch die anderen
fingen nun an zu lachen und schauten mich auf seltsame Weise an.
„Nous avons beaucoup d’amants“,
sagte Susanna auf Französisch, mit dem weichen Akzent der rumänischen Juden.
„Ils ne nous laisseraint pas
partir pour l’Italie“, sagte Lublia und zündete sich eine Zigarette an. „Il
sont tellement jaloux!“. Ich beobachtete, dass sie ein langes, schmales Gesicht
mit einem kleinen traurigen Mund mit schmalen Lippen hatte. Er ähnelte dem Mund
eines Kindes. Aber ihre Nase war knochig und von der Farbe einer Kerze mit
grossen roten Nasenlöchern. Beim Rauchen schaute sie hin und wieder auf die
Zimmerdecke und stiess den Rauch mit eingeübter Gleichgültigkeit aus: und in
ihrem weissen Blick lag eine Mischung von Resignation und Hoffnungslosigkeit.
Das Mädchen, das mit dem Buch
auf den Knien dagesessen hatte, erhob sich nun und sagte: „noapte buna“, wobei
es das Buch mit beiden Händen fest an ihren Körper drückte.
„Noapte buna“, antwortete ich.
„Noapte buna, dòmnule capitan“,
wiederholte das Mädchen, wobei sie mit ängstlicher Grazie einen etwas
unbeholfenen Knicks machte. Und sich umdrehend ging sie zur Treppe.
„Willst Du die Kerze, Zoe?“,
fragte Lublia, wobei sie ihr mit den Augen folgte.
„Nein danke. Ich habe keine
Angst vor der Dunkelheit“, antwortete Zoe ohne sich umzudrehen.
„Tu
vas rêver de moi“, rief Susanna.
“Bien sûr! Je vais dormir à Venise”, antwortete Zoe und
verschwand.
Wir blieben für einige Augenblicke still. Das ferne Rattern eines Lastwagens liess die Glasscheiben
der Fenster leicht erzittern.
„Vous aimez les Allemands?“, fragte mich plötzlich Susanna.
„Pourquois pas?“, antwortete ich leicht misstrauisch, was
das Mädchen bemerkte.
„Ils sont gentils, n’est pas?“, sagte sie.
„Il
y en a qui sont très gentils“.
Susanna sah mich lange an und sagte dann mit einem
unverhohlenen Ausdruck von Hass: „Il sont très aimables avec les femmes“.
„Ne la croyez pas“, sagte Lublia, “au fond, elle les aime
bien”.
Susanna fing an zu lachen,
wobei sie mich seltsam ansah. Etwas Weisses und Weiches erschien in der Tiefe
ihres Blicks, es schien als würden sich ihre Augen auflösen.
„Elle a peut-être quelque
raison de les aimer“, sagte ich.
„Oh, gewiss“, sagte Susanne,
„sie sind meine letzte Liebe“.
Ich bemerkte, dass ihre Augen
voller Tränen waren und trotzdem lachte sie. Da streichelte ich ihr behutsam
die Hand und Susanna liess ihren Kopf auf die Brust hängen so dass ihre Tränen
lautlos ihr Gesicht netzten.
„Warum weinst Du?, sagte Lublia
mit heisserer Stimme und warf die Zigarette fort, „wir haben noch zwei Tage
gutes Leben vor uns. Findest Du das zu wenig, zwei Tage? Genügen sie Dir noch
nicht?“. An diesem Punkt hob sie die Stimme und schüttelte ihre Arme über dem
Kopf, so als ob sie Hilfe herbeirufen wolle, und mit einer Stimme voller Hass
und Abscheu, voller Schmerz und Angst schrie sie: „Noch zwei Tage, noch zwei
Tage, dann schicken sie uns nach Hause! Nur noch zwei Tage und Du heulst? Genau
jetzt musst Du heulen? Wir gehen weg von hier, verstehst Du? Weg! Weg! Und sie
warf sich der Länge nach auf das Sofa, versteckte ihr Gesicht in den Kissen und
begann zu zittern, klapperte wild mit den Zähnen und wiederholte hin und wieder
mit dieser seltsamen, verängstigten Stimme: „Nur noch zwei Tage!“. Ein
Pantoffel rutschte ihr vom Fuss und fiel auf den Holzboden. Ihr nackter Fuss
war gerötet, hatte Schwielen und war von weissen Narben übersät. Er war klein
wie der Fuss eines Kindes. Ich dachte, dass sie viele Meilen weit zu Fuss hatte
gehen müssen, wer weiss von wo sie herkam, wer weiss aus wie vielen Orten sie
hatte fliehen müssen, bevor man sie aufgegriffen und mit Gewalt hierher
gebracht hatte.
Susanna schwieg, das Gesicht
auf der Brust, ihre Hand meinen Händen überlassen. Es schien als würde sie
nicht mehr atmen. Plötzlich sagte sie mit leiser Stimme und ohne mich
anzuschauen: „Glaubt Ihr, dass man uns nach Hause schickt?“
„Sie können euch nicht zwingen,
euer ganzes Leben hier zu verbringen“.
„Alle zwanzig Tage wechseln sie
uns Mädchen aus“, sagte Susanna, „und wir sind schon achtzehn Tage hier. Noch
zwei Tage und dann wechseln sie uns aus. Sie haben es uns schon wissen lassen.
Aber glaubt Ihr wirklich, dass sie uns nach Hause zurückkehren lassen?“ Ich
merkte, dass sie vor etwas Angst hatte, aber es gelang mir nicht festzustellen
vor was. Dann erzählte sie mir, dass sie in der Schule Französisch gelernt
hätte, in Chiscinau, dass ihr Vater ein Kaufmann in Balzy gewesen war, dass
Lublia die Tochter eine Arztes sei und dass auch drei andere Mädchen
Studentinnen seien. Sie fügte hinzu, dass Lublia Musik studieren und Klavier
wie ein Engel spielen würde. Sie würde bestimmt eine grosse Künstlerin werden.
„Wenn sie dieses Haus verlassen
hat“ sagte ich, „kann sie ja ihre Studien wieder aufnehmen“.
„Wer weiss das schon? Nach
alledem was uns zugestossen ist. Und dann, wer weiss wie alles enden wird“.
Inzwischen hatte sich Lublia
auf die Ellbogen gestützt, hatte ein verschlossenes Gesicht aufgesetzt,
geschlossen wie eine Faust, ihre Augen glänzten seltsam in ihrem wächsernen
Gesicht. Sie zitterte als ob sie Fieber hätte. „Ja, ich werde sicher eine
grosse Künstlerin“, sagte sie. Und sie fing an zu lachen und wühlte in ihren
Taschen nach einer Zigarette. Sie stand auf, ging zum Tisch, öffnete eine
Bierflasche, füllte drei Gläser und brachte sie zu uns auf einem hölzernen
Tablett. Sie bewegte sich leicht und ohne ein Geräusch zu machen.
„Ich habe Durst“, sagte Lublia
und trank hastig mit geschlossenen Augen.
Es war schwül im Zimmer, dichte
Sommerluft drang durch die nicht ganz geschlossenen Fenster. Lublia ging mit
nackten Füssen durchs Zimmer, das leere Glas in der Hand, die Augen streng geradeaus
gerichtet. Ihr langer und magerer Körper schwang im der schlaffen Hülle des
weiten roten Morgenmantels hin und her, ihre nackten Füsse erzeugten auf dem
Holzboden einen weichen Ton, der von weither zu kommen schien. Das andere
Mädchen, das während der ganzen Zeit weder ein Wort gesprochen, noch ein
Lebenszeichen von sich gegeben hatte, so als ob ihre mit ihren auf uns
gerichteten Augen nicht sehen würden was um sie herum vorging, war inzwischen
quer auf dem Sofa liegend in ihrem mehrfach geflickten Morgenrock eingeschlafen,
die eine Hand im Schoss, die andere zur Faust geschlossen auf der Brust. Hin und wieder hörte man aus dem Park den
trockenen Ton eines Gewehrschusses widerhallen. Vom gegenüberliegenden Ufer des
Dnjestr, ein bisschen weiter oben, gegen Jampol, erreichte uns das Rattern von
Artilleriegeschützen, das sich in den wolligen Falten der schwülen Nacht
verlor. Lublia blieb vor der
eingeschlafenen Gefährtin stehen und betrachtete sie lange schweigend. An
Susanna gerichtet, sagte sie dann: „Man muss sie zu Bett bringen, sie ist
müde“.
„Wir haben den ganzen Tag
gearbeitet“, sagte Susanna fast wie um sich zu entschuldigen, „wie sind
todmüde. Während des Tages müssen wir uns um die Soldaten kümmern, und am
Abend, zwischen acht und elf Uhr kommen die Offiziere. Wir haben praktisch
keine Minute zum Ausruhen“. Sie sprach mit gleichgültiger Stimme, so als ob es
sich um irgendeine beliebige Arbeit handele. Sie zeigte nicht einmal
Verachtung. Während sie das sagte, erhob sie sich, half Lublia ihre Gefährtin
hochzuheben, die, sobald sie ihre Füsse auf dem Boden spürte, aufwachte und mit
einem Stöhnen, so als ob sie Schmerzen fühle, in die Arme ihrer Freundinnen gelehnt,
sich auf die Treppe zu bewegte. Dann verloren sich das Stöhnen und das Geräusch
ihrer Schritte hinter der halbgeschlossenen Tür.
Ich blieb allein im Zimmer. Die
von der Decke hängende Petroleumlampe
fing an zu rauchen, ich erhob mich um die Flamme zu regulieren. Die
Lampe fuhr fort zu flackern und mein Schatten und die Schatten der Möbel, der Flaschen
und aller Gegenstände begannen sich an der Wand zu bewegen. Vielleicht wäre es
besser gewesen in diesem Augenblick zu gehen. Ich sass auf dem Sofa und schaute
gegen die Tür. Ich fühlte dunkel, dass es falsch von mir war, hier in diesem
Hause zu bleiben. Vielleicht wäre es besser gewesen zu gehen bevor Lublia und
Susanna zurückkamen. „Ich fürchtete Euch nicht mehr zu sehen“, hörte ich hinter
mir Susanna sagen. Sie war wieder heruntergekommen und, ohne ein Geräusch zu
machen, bewegte sich nun ganz langsam im Zimmer, sie räumte die Flaschen und
Gläser fort, dann setzte sie sich neben mich auf das Sofa. Sie hatte ihr
Gesicht gepudert und sah jetzt noch bleicher aus als vorher. Sie fragte mich,
ob ich noch lange in Soroka bliebe.
„Ich weiss nicht, vielleicht
zwei oder drei Tage, länger sicher nicht“, antwortete ich. „Ich muss an die
Front bei Odessa. Aber ich werde sicher bald zurückkommen“.
„Glaubt Ihr, dass die Deutschen
Odessa einnehmen werden?“
„Das, was die Deutschen machen
werden, interessiert mich überhaupt nicht“, sagte ich.
„Das möchte auch ich sagen
können“, sagte Susanna.
„Oh, das tut mir leid, Susanna,
ich wollte nicht ….. „ sagte ich. Und nach einer verlegenen Pause fugte ich
hinzu: „Es ist mir völlig gleich was die Deutschen machen. Es braucht noch mehr
um den Krieg zu gewinnen“.
„Wisst Ihr wer den Krieg
gewinnen wird? Vielleicht glaubt Ihr, dass die Deutschen, die Engländer oder
die Russen gewinnen werden. Den Krieg gewinnen wir, Lublia, Zoe, Marika, ich
und alle wie wir hier. Den Krieg werden die Huren gewinnen“.
„Sei still“, sagte ich.
„Die Huren werden gewinnen!“
wiederholte Susanna fast schreiend. Dann begann sie still zu lachen, mit der
Stimme eines Kindes, mit der Stimme eines verängstigten Kindes: „Glaubt Ihr,
dass sie und nach Hause schicken werden?“.
„Warum sollten sie euch nicht
nach Hause schicken?“ antwortete ich, „Habt ihr vielleicht Angst, dass sie euch
in ein anderes Haus wie dieses schicken“.
„Oh nein, mach zwanzig Tagen
bei einer solchen Arbeit taugen wir zu nichts mehr. Ich habe sie gesehen, die
anderen. Sie unterbrach sich und ich merkte, dass ihr die Lippen zitterten. An
diesem Tag hatte sie dreiundvierzig Soldaten und sechs Offiziere „bedienen“
müssen. Sie begann zu lachen. Sie konnte dieses Leben nicht mehr aushalten. Es
ist nicht so sehr der Ekel, als die körperliche Anstrengung. Es ist nicht so
sehr der Ekel, wiederholte sie lächelnd, als die körperliche Anstrengung. Ihr
Lächeln tat mir weh: es schien als wolle sie sich rechtfertigen; oder
vielleicht lag noch etwas anderes in diesem zweideutigen Lächeln, etwas
Dunkles. Sie fügte hinzu, dass die anderen, die vor ihnen hier gewesen waren,
also vor Lublia, Zoe und Marika, als sie dieses Haus verliessen in einem,
erbarmungswürdigen Zustand gewesen seien. Sie schienen keine Frauen mehr zu
sein. Sie waren nur noch Lumpen. Susanna hat sie fortgehen sehen mit ihren
Köfferchen, mit ihren zu Bündeln geschnürten Lumpen unter dem Arm. Zwei
SS-Männer mit Maschinenpistolen hatten sie auf einen Lastwagen steigen lassen
und fortgebracht, wer weiss wohin.
„Ich möchte nach Hause
zurückkehren“, sagte Susanna, „nach Hause“.
Die Lampe fing wieder an zu
flackern, der fette Petroleumgeruch verbreitete sich im Zimmer. Ich hielt sanft
Susannas Hand, die zitterte wie ein verängstigtes Vögelchen. Auf der
Türschwelle atmete die Nacht schwer wie eine kranke Kuh: ihr warmer Hauch erfüllte
das Zimmer zusammen mit dem Säuseln der Blätter der Bäume und dem Rauschen des
Flusses.
„Ich habe sie gesehen, als sie
das Haus hier verliessen“, sagte Susanna mit Schaudern, „sie sahen wie Gespenster
aus“.
Wir blieben schweigend lange so
sitzen, im Halbdunkel des Zimmers und ich fühlte in mir eine bittere
Traurigkeit, ich glaubte nicht mehr an meine Worte. Meine Worte waren falsch
und böse. Auch unser Schweigen war falsch und böse.
„Auf Wiedersehen, Susanna“,
sagte ich mit gedrückter Stimme.
„Wollt Ihr nicht
heraufkommen?“, sagte Susanna.
„Es ist spät“, antwortete ich
und begab mich zur Tür.
„Au revoir“, sagte Susanna lächelnd.
Ihr schwaches Lächeln leuchtete
auf der Schwelle, der Himmel war voller Sterne.
„Haben Sie nichts mehr von ihnen gehört, von diesen armen Mädchen?“, fragte
Louise nach langem Schweigen.
„Ich weiss nur, dass sie sie zwei Tage später fortgebracht haben. Alle
zwanzig Tage tauschten die Deutschen die Mädchen aus. Diejenigen, die in dem
Bordell gewesen waren, verluden sie auf Lastwagen und brachten sie hinunter zum
Fluss. Schenk sagte mir einmal, man müsse kein Mitleid mit ihnen haben. Sie
taugten zu nichts mehr. Sie seien nur noch Lumpen. Und im Übrigen seien sie
Jüdinnen.
„Elles savaient qu’on allait fusiller?“, fragte Ilse.
„Elles le savaient. Elles tremblaient de peur d’être fusillées. Oh, elles
le savaient. Tout le monde le savait à Soroka.
Als wir hinausgingen war der Himmel voller Sterne. Sie funkelten kalt
und tot, wie Glasaugen. Vom Bahnhof hörte man das heisere Zischen der Züge. Ein
bleicher Frühlingsmond ging am klaren Himmel auf, die Bäume und die Hauser
schienen aus einem weichen, glitschigen Stoff gemacht zu sein. Ein Vogel sang
zwischen den Ästen, dort unten, beim Fluss. Wir gingen die verlassene Strasse
am Flussufer entlang und stiegen zum Ufer hinab.
Das Wasser machte im Dunkeln ein Geräusch wie nackte Füsse im Gras. Dann
fing ein anderer Vogel zu singen an, auf einem Baum, der schon vom bleichen Mondlicht
beleuchtet war, und andere Vögel antworteten von Nah und Fern. Ein grosser
Vogel glitt lautlos über die Bäume, kam herunter, berührte fast das Wasser, und
überquerte langsam den Fluss mit unsicherem Flug. Mir kam die Sommernacht im
römischen Gefängnis Regina Coeli in den Sinn, als ein Schwarm Vögel sich auf
dem Dach des Gefängnisses niederliess und zu singen anfing. Die Vögel kamen
sicher von den Bäumen des Gianicolo, sie haben sicher ihre Nester in der
Tasso-Eiche, dachte ich und fing zu weinen an. Ich schämte mich des Weinens,
aber nach einer so langen Gefängniszeit ist der Gesang eine Vogels stärker als
der Stolz eines Menschen, der Einsamkeit eines Menschen. „Oh, Louise“, sagte
ich und ohne es eigentlich zu wollen, nahm ich ihre Hand und streichelte sie
sanft.
Louise zog zart ihre Hand zurück und schaute mich einem Blick an, der
eher Überraschung zeigte als dass er ein Vorwurf war. Sie war überrascht von
meiner unerwarteten Geste, vielleicht bedauerte sie auch, dass sie meinem
Streicheln ausgewichen war; ich hätte ihr sagen sollen, dass ihre Hand mich an
diejenige von Susanna erinnerte, an die kleine, feuchte Hand Susannas, dort
unten im Bordell von Soroka. Auch erinnerte ich mich an die Hand einer
russischen Arbeiterin, die ich eines Abends unbemerkt in einem Wagen der
Berliner U-Bahn gedrückt hatte, eine breite schwielige, von Säuren zerfressene Hand.
Mir war es, als ob ich auf dem Sofa des Bordells von Soroka neben dem armen,
jüdischen Mädchen, neben Susanna, sitzen würde, und es überfiel mich ein
grosses Mitleid mit Louise, mit Louise von Preussen, mit der kaiserlichen
Prinzessin Louise von Hohenzollern. Die Vögel sangen um uns im dunklen Mondlicht.
Die beiden Mädchen schwiegen und schauten auf den Fluss, der unten in der Dunkelheit
opak flimmernd vorbeifloss.
„J’ai pitié d’être femme“, sagte Louise mit leiser Stimme in ihrem Potdamer
Französisch.